Zum Buch
Narragonia
Im August 2022 schrieb mir Bert Gerresheim aus Düsseldorf unter dem Absender „Rheinstrom Kilometer 744“: “arbeite jetzt an einer bildfolge ‘narragonia’ – es ist ein schlagwort, das ich Sebastian Brant verdanke.”
„Ad Narragoniam“ – nach Narragonien, ins Narrenland – dieses Buch des elsässischen Juristen und Theologen Sebastian Brant (1457–1521) erschien auch auf deutsch: „Das Narren Schyff (Gedruckt zu Basel vff die Vasenacht 1494)“. Paarige Knittelverse, 111 einzelne Gestalten, menschliche Tor- und Narrheiten aller Art darstellend, der Narr im Mittelpunkt, Holzschnittillustrationen (viele vom jungen Albrecht Dürer), Begründung der zahllosen Varianten der nachfolgenden Narrenliteratur, viele Neuauflagen und Nachahmungen, etwa „Das Lob der Torheit“ des Erasmus von Rotterdam, 1511, Wahrheit durch Lügen. Brants Buch zündete bei der Leserschaft, es zündete auch bei Bert Gerresheim, der sich in seinem Werk schon seit langem mit solchen gewitzten Randfiguren beschäftigt hat.
Er schuf ein Konvolut von am Ende 60 Bleistiftzeichnungen, die sich um das Thema Narrheit drehen, gezeichnet, gekritzelt, konturiert, schattiert, frottiert (durchgerieben), kurz: zu Papier gebracht mit einer lebendigen Zeichenkunst, in der sich Bert Gerresheim von früh an geübt hat und die er nun meisterlich beherrscht. Gegenständliche, figürliche Motive, die ins Surreale übergehen, Augenlust und Denkanstöße für die Betrachter. Bert Gerresheim übergeht freilich die moralischen und belehrenden Intentionen, die Brant in seiner „vorred in das narrenschyff“ als Aufgabe seines Buches beschreibt.
Das Narrenland ist ein riesiges Land, kein enges Robinson-Eiland, sondern ein Kontinent, und wir bevölkern ihn, wir sind die närrischen Eingeborenen. Das wird uns mit Gerresheims Blättern in vielfältigen Einkleidungen und oft grotesken Maskierungen gezeigt.
Gerresheim ist Düsseldorfer, lebt am Rheinstrom, kennt und liebt den Karneval und seine Gestalten, zumal den Tyl Eulenspiegel in der Regionalversion des Hoppeditz, dem er 2008 ein über drei Meter hohes „Vexiermonument“ aus Bronze gesetzt hat; es ist, passemd zur Mahnung von Sebastian Brants Satiere, auf dem Marktplatz hinter dem Düsseldorfer Rathaus aufgestellt – ein Werk voller ironischer Anspielungen; es macht zwar Mühe, sie zu entdecken und zu entschlüsseln, aber es wird zum Vergnügen, wenn man den Hinweisen von Uta Husmeier-Schirlitz folgt, im Katalog der „Hommage zum 80. Geburtstag“ von Bert Gerresheim, Clemens Sels Museum Neuss, 2015. Das Narrendenkmal neben dem Rathaus – man fühlt sich Sebastian Brant nah.
Der Narragonia Bilderzyklus besteht aus zwei Gruppen von Vexierbildern: „Narragoniawiedergänger“ und „Narragoniagelichter“.
In der ersten Bildfolge „Narragoniawiedergänger“ handelt es sich um Vexierporträts von historischen Narrenpersönlichkeiten, die ihre Narrheit lebten und von Philosophen, die das „Lob der Torheit“ zu vertreten wussten. Diese Männer in Bert Gerresheims persönlicher Auswahl, sie sind die Stars in seiner Narrenwalhalla. Die Narrenmaske erscheint als „pars pro toto“ – als Zeichen einer verlarvten, mehrdeutigen Lebenswirklichkeit. Vielleicht sind die Narragonia-Vexierbilder so etwas wie ein Protokoll der fortschreitenden „Vernarrung der Welt.“ –
In der zweiten Bildfolge „Narragoniagelichter“ herrscht surreale Freiheit: „der dichte vorhang der wirklichkeit“ und „die bilder hinter dem vorhang“ machen Rösselsprünge auf dem Brett von René Magritte. Das Skelett des auf Geige fiedelnden Knochenmanns zitiert den „Tod“ aus Alfred Rethels Holzschnitten auf die Revolution von 1848 und spielt zugleich auf Arnold Böcklins Selbstbildnis mit dem fiedelnden Tod an – Gerresheims Bilderwelt ist nicht eng, in ihr gibt es Zusammenhänge und Kurzschlüsse, die über das jeweils gegebene Bildmotiv hinausreichen.
Bert Gerresheim erläutert: „im Narragoniagelichter’ handelt es sich um eine bilderfolge, die versucht, die vernarrung unserer vieldeutig suchbildhaften erlebniswirklichkeit vexierend zu protokollieren.“ Vexierend, das heißt unter Einbeziehung von bei der Arbeit automatisch auftauchenden Assoziationen aller Art, am Werk ist hier „reiner psychischer Automatismus – Denkdiktat ohne Vernunftskontrolle“, so wie André Breton im „Ersten surrealistischen Manifest“ von 1924 die Vorgehensweise des Künstlers charakterisiert. Gerresheim sagt es packender: „Werfen wir das bisschen Hirn mit seinen berechnenden Klugheitsfetzen über Bord und bleiben wir auf dem Spielfeld von Realität, Vision und wunder, diesseits und jenseits der Tür, welche die äußere und innere Erlebniswelt zu trennen scheint.“ –
© Karlheinz Nowald
Bert Gerresheim,
geboren 1935 in Düsseldorf, 1956 – 60 Studium an der Kunstakademie in Düsseldorf, 1960 – 63 Studium der Kunstgeschichte, Archäologie und Germanistik an der Universität in Köln, 1961 Stipendium des Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie, 1965 Förderpreis zum Cornelius-Preis der Stadt Düsseldorf für Bildhauerei, 1967 – 68 Stipendium für einen einjährigen Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom, 1974 – 78 Gast der Villa Romana in Florenz, Aufnahme in den Ordo Franciscanus Sæcularis 1977 Kunstpreis der Künstler, Düsseldorf, 1978 Kunstpreis: „Zeitgenössisches Menschenbild“ des Unesco Komitees Zopot (Polen), 1979 Förderpreis zum Kunstpreis der Stadt Berlin, 1982 Dankmedaille des Katholikentages Düsseldorf, 1983 Ehrenplakette „Alte Düsseldorfer“, 1990 Heinrich-Heine-Plakette der „Düsseldorfer Jongens“, 1995 Kunstpreis der „Düsseldorfer Jongens“, 1996 Brüder-Jacobi-Plakette des Freundeskreises Düsseldorfer Buch 75, 1997 Aufnahme in die Archicofradia Universal des Apostol Santiago (Spanien), 1999 Ehrengabe des Corsello de la Ciudad des Rianxo (Spanien), 2001 Ehrenmedaille „Amicus“ des Episkopats Warschau, 2004 Ehrenbürger der Stadt Rianxo, Nordwest-Spanien. 2015 Ehrenmitglied der Heinrich-Heine-Gesellschaft, Düsseldorf. 2018 Jan-Wellem-Ring der Stadt Düsseldorf.
Denkmals- und Monumentalgestaltungen für Außen- und Innenräume im In- und Ausland (Deutschland, Irland, Spanien, Polen). Darunter: Heinrich Heine Monument, Stadterhebungsmonument, Katholikentagskreuz, Mahnmal des schweigenden Widerstands-Popieluszko-Denkmal, Josef-Arbeitermonument, Rochus-Monument, Kirchenportal Alt-St. Martin, Hoppeditz-Denkmal, Karl-Arnold-Memorialskulptur, Heinrich Heine-Denkmal der Universität, Düsseldorf. Figuren- Ensemble der Universität, Edith Stein-Denkmal, Weltjugendtags-Denkmal am Dom, Köln. Edith Stein-Memorial, Berlin. Heinrich Heine-Büste in der Walhalla, Donaustauf. Kreuzwegstationen und Kreuzweg, Kreuzmonument am Paulusdom, Münster. Stadtmonument, Wuppertal. Mahnmal der Versöhnung, Kleve. Kirchenportale, Apokalypse-Monumentalrelief, Mariensäule, Kreuzwegreliefs, Kriegsmemorial, Kevelaer. Kreuzweggestaltung, Wesel. Jakobus-Denkmal, Neuss. Saarwerden-Denkmal, Zons. Franziskus-Denkmal, Mönchengladbach. Jakobus-Stele, Miltenberg. O Fiach-Memorial, Nord-Irland. Dichter-Memorials, Marienmonument, Rianxo, Spanien. Popieluszko-Denkmal, Warschau, Edith Stein-Kapelle, Krakau, Polen. Ausgestaltung der Kapelle des Seligen Johannes Paul II., Düsseldorf. La-Verna-Epitaph, Paderborn. Edith-Stein-Memorialskulptur, Neuss. Karl-Leisner-Memorialskulptur, Kleve. Mutter-Ey- Denkmal, Düsseldorf.
Einzelausstellungen im In- und Ausland, Werke in öffentlichen und privaten Sammlungen im In- und Ausland – Buchillustrationen – Fernsehfilme. Grafische Mappenwerke und Editionen.